Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
© Amis de Madeleine Delbrêl

Madeleine Delbrêl – eine Heldin des Alltags?

Ihr Freisein für Andere und ihr Geladensein von Gott charakterisieren das Heldentum der französischen Mystikerin, Sozialarbeiterin und Schriftstellerin.

Ist „Heldentum“ (noch) zeitgemäß?

„Vive la France!“ – Im Alter von siebzehn Jahren zieht Johanna in die Schlacht gegen England, siegt überraschend und wird zur Jungfrau von Orléans. Sie stirbt später auf dem Scheiterhaufen und wird trotzdem zur Nationalheiligen Frankreichs. – Als „Held aus dem Supermarkt-Keller“ rettete der muslimische Laden-Mitarbeiter bei dem Pariser Anschlag zu Jahresbeginn 2015 sechs Geiseln das Leben, indem er sie im Kühlraum des Geschäftes versteckte. – Mit der Frage „Wer ist ein richtiger Held?“ setzten sich Pfadfinderinnen im Unterallgäuer Markt Rettenbach auseinander. Künstlerisch brachten sie ihre Vorstellungen zu Papier und gestalteten einen Jugendgottesdienst zum Thema. Dafür wurde ihnen der Bischof-Simpert-Preis 2014 für das beste Jugendprojekt in der Diözese Augsburg verliehen (Katholische SonntagsZeitung Bistum Augsburg 21./22.02.2015) – Als „Heldinnengeschichten“ bezeichnet die freie Autorin und Geschichtenerzählerin Susanne Niemeyer ihre alljährlichen, eher alltäglichen Fastenbemühungen im Zugehen auf Ostern (in: Andere Zeiten, Magazin zum Kirchenjahr, Heft 1/2015).

„Heldinnenspuren“ im Alltäglichen: Madeleine Delbrêl

Lässt sich in ähnlicher Absicht nicht auch Madeleine Delbrêl als einer „Alltagsheiligen“ und „Heldin des Alltags“ begegnen? In diesem Sinne weiter in der „Vorstellungsrunde: 1904 in Frankreich geboren, erhielt Madeleine Delbrêl in ihrer Kindheit eine katholische Erziehung und Sozialisation. In ihrer Jugend entwickelte sie sich dann zu einer überzeugten Atheistin. Nach einer radikalen Neubekehrung zum Christentum siedelte sie sich 1933 mit zwei Freundinnen in der kommunistisch-marxistisch geprägten Arbeiterstadt Ivry südöstlich von Paris an. Dort war sie zeitlebens als Sozialarbeiterin in verschiedenen Aufgaben und Anstellungen tätig. Ihre menschliche und geistliche Stütze war eine kleine Laiengemeinschaft, die sich um sie herum gebildet hatte. Sie verwirklichten ihren christlichen Glauben „alltäglich“, das heißt sie nahmen am einfachen Leben der Leute um sie herum teil und waren so unscheinbar als Christinnen präsent.

In der biografischen Zusammenschau begegnet man Madeleine Delbrêl zunächst als einer Frau, die – ganz „alltäglich“ – ein christliches Leben in der Zeit, in der sie gelebt hat, und in der Stadt, in der sie mit ihren Weggefährtinnen zusammen gewohnt hat, zu verwirklichen suchte. Doch es bleibt bisher die Frage unbeantwortet: Was ist daran „heldenhaft“ bzw. „heilig“?

Was zeichnet also diese „andere Heilige“ (Boehme 2004) als „Heldin“ aus? Zum einen ihre „Freiheit“: Madeleine Delbrêl ist zutiefst „frei für Gott“, damit gerade auch für andere und für den Dienst an Kirche und Welt – ohne Angst um sich selbst, aber auch ohne zu vergessen, was menschlich zum Glauben und Leben notwendig ist.2 Zum anderen ist es ihr von und durch Gott „Geladensein“, so wie Leitungen mit elektrischem Strom geladen sind…

Eine „Heldin“ ist „frei“

Im Jahre 1973 erschien das Buch „Communautés selon l’Évangile“3. In diesem sind Texte Madeleine Delbrêls zu finden, die im Kontext ihres Gemeinschaftslebens entstanden sind. Der Titel der von Hans Urs von Balthasar besorgten deutschen Übersetzung lautet „Frei für Gott“ und drückt aus, was Madeleine Delbrêl insbesondere auszeichnet: ihre Freiheit – aus dem Glauben heraus, im Leben des Alltags. In diesem Werk „über Laiengemeinschaften in der Welt“ finden sich unter anderen auch Aufzeichnungen aus dem Jahre 1956, in denen sie sich und ihre Weggefährtinnen zu beschreiben versucht:

Leute, die in Christus keinen anderen Beruf haben als Gott ausschließlich zu gehören, ihm verfügbar, um seinen Willen zu tun und in Kirche und Welt das Evangelium zu leben. Leute deren Lebenssinn ist, das Mögliche zu tun, damit Gottes Wille sich ihrer bemächtige, Christus ihre erste Liebe sei; damit sie lieben, was er liebt und wie er es liebt; die immer auf dem Sprung sind, irgendwohin und für alles, was Gott beliebt, aufzubrechen, die ein immer neu entziffertes Evangelium leben, nachgeahmt in seinem Irgendwohin und seiner Beliebigkeit, in der Kirche so wie in der Welt. … Zu den Leuten gehören, die inmitten von anderen, die ihnen gleich sind, von Gott überwältigt werden.

Kurz gefasst: Auf Gott vertrauen, frei im Leben und im Alltäglichen. Dabei lässt sich Madeleine Delbrêls „Freiheit“ als zutiefst urchristliche Haltung charakterisieren, so wie es der Apostel Paulus in „heldenhaft-anmutende“ Worte fasst: Keiner von uns lebt sich selber und keiner stirbt sich selber: Leben wir, so leben wir dem Herrn, sterben wir, so sterben wir dem Herrn. Ob wir leben oder ob wir sterben, wir gehören dem Herrn. Denn Christus ist gestorben und lebendig geworden, um Herr zu sein über Tote und Lebende. (Röm 14,7-9)

Paulus stellt die Verbundenheit aller in Christus heraus. Daran sind für Paulus Christen bzw. christliche Gemeinden und Gemeinschaften erkennbar. Sie sind eins in ihrem Glauben an Christus Jesus. Die Grenzen von Kommunikation und Verstehen, von Leben und Tod zählen nicht mehr. In der Taufe mit Christus ist für ihn die Zugehörigkeit zu Christus in Leben und Sterben und in der Auferstehung begründet.

Dies findet sich in der „Alltagsspiritualität“ Madeleine Delbrêls als christliche Authentizität im Rechnen mit Gott in jedem Augenblick, als christliche Freiheit in hörender Suche nach dem Willen und Reich Gottes sowie als christliche Offenheit in der Erfahrung von Gottesgegenwart in Gemeinschaft und Alltag wieder. Das zeichnet Madeleine Delbrêls „Heldentum“ einerseits aus. Es kommt in einem ihrer Gebete in besonderer Weise zum Ausdruck:

Ich will das, was Du (Gott) willst,

ohne mich zu fragen,

ob ich es kann,

ohne mich zu fragen,

ob ich Lust darauf habe,

ohne mich zu fragen,

ob ich es will.

Eine „Heldin“ ist „geladen“

Als „Pionierin des Glaubens in säkularisierter Gesellschaft“ wirkt die französische Mystikerin, Sozialarbeiterin und Schriftstellerin in unsere Zeit der „Gottesentleerung“ hinein. Nicht erst gegenwärtig ist man als Christ vor die Frage gestellt: Wie kann man heute glauben, vom Grund seiner Hoffnung reden und im Leben davon Zeugnis geben? Auch Madeleine Delbrêl kannte sie und ihr uns heute vorliegendes Glaubens- und Lebenszeugnis birgt in überraschender Art und Weise „heroische“ Antworten und Tugenden, die aus dem Alltag als Hoffnungsquelle schöpfen.

Dabei ist sie als Christin mit „atheistischer Vergangenheit“ von Gott „überwältigt“ worden und hat gemeinsam mit anderen neue überzeugende Wege beschritten: Sie hat mitten im Alltag eines gewöhnlichen Lebens den Glauben gelebt – auf Augenhöhe mit den Menschen vor Ort. Selbst „atheistisch“ in der Jugend war sie dann später nach ihrer radikalen Konversion mit dem „Atheismus“ in Ivry konfrontiert, allerdings anders und neu „geladen“:

Christen und Christinnen sind in der Welt wie ‚elektrische Leitungen‘ für etwas, was die Welt weder in sich selbst trägt, noch aus sich selbst hervorbringen kann. Je mehr sie für die Welt ‚geladen‘ sind, desto mehr sind sie für die Welt bestimmt. Ihr normales Kreuz besteht in der Hochspannung zwischen ihrer engen Zugehörigkeit zur Welt und ihrer Aufgabe, die sie zwar mitten in der Welt ausführen, aber darin der Welt fremd sind. Dennoch hat Gott sie so vorgesehen, er stützt sie, er hält sie, damit das Werk Christi unter den Bedingungen und durch die Mittel fortgesetzt wird, die ihm eigen sind.

Madeleine Delbrêls „stromgeladene“ Erfahrungen können so für das eigene Glaubensleben mit seinen vielfältigen Fragen und gegenwärtigen Herausforderungen Anstöße geben: Mit ihr als Weggefährtin kann man sich, ob allein oder in Gemeinschaft, auf den Weg machen, um sich von Gott her ergreifen zu lassen und ihm sowie Menschen und Welt anders und neu zu begegnen. Doch: Vorsicht!

Auch das sollten wir uns deutlich klarmachen: Evangelisieren („Heldentum“; Anm. d. Verf.) heißt nicht bekehren. Den Glauben verkünden heißt nicht den Glauben schenken. Wir sind verantwortlich dafür, ob wir reden oder schweigen, aber nicht für die Wirksamkeit unserer Worte. Gott ist es, der den Glauben schenkt.

Eine „freie“ und von Gott „geladene“ Heldin

Aus- und bezeichnend für Madeleine Delbrêl ist, wie einerseits aufgezeigt, ihr „Freisein“ im Sinne eines „Riskieren“ des eigenen Lebens für Gott und gerade nicht als „Bewahren“. So wie durch Christi Kreuzestod „Auferstehung“ zum letzten und zugleich ersten Wort Gottes, sozusagen zum „Schlüsselwort“ christlichen Glaubens und Lebens wurde. Dabei ist es Gott, der Glauben schenkt, und es kommt weiterhin auf die entsprechende „Stromladung“ an. Dann können sich die Bewährungsproben und Herausforderungen des alltäglichen Lebens als „heldenhafte“ Chancen eröffnen und erweisen – Tag für Tag.