Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Foto: Peter-Andreas Hassiepen

"Mir geht es um Europa..."

Der Schriftsteller Navid Kermani sprach mit uns über den Skandal der europäischen Flüchtlingspolitik.

Die Frage stellte Christopher Campbell

Sie gingen bereits 2001 in Ihren detailreichen Aufsätzen und Reportagen, etwa in »Zwischen Koran und Kafka. West-östliche Erkundungen«, aufgrund von Beobachtungen, die sie auf ihren Reisen in Nordafrika und dem südeuropäischen Mittelmeerraum gemacht haben mit Europa hart ins Gericht. Manche sagen, sie schimpfen über Europa. Stimmt das?

Ich schimpfe über Europa, weil es mir etwas bedeutet. Diese oft belächelte oder so verächtlich gemachte Europäische Union ist ja eine der größten Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte.

Sie sagen: Europa tötet jeden Tag. Was ist an diesem Projekt gelungen?

Frieden zu schaffen auf einem so kriegerischen, vom Nationalismus entstellten Kontinent. Ich kann mich an meine eigene Schulzeit erinnern, da hatten meine deutschen Mitschüler noch in den frühen 80er Jahren Probleme, eine französische Gastfamilie zu bekommen, weil die meisten französischen Großeltern keinen Deutschen bei sich zu Hause haben wollten. Deutsche sollten nicht mal ihr Haus betreten dürfen, so zerrüttet waren die Verhältnisse noch. Aber das europäische Projekt ist nicht nur ein Friedensprojekt, es ist auch ein Projekt der Aufklärung. Es wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von klugen, ja genialen Politikern verwirklicht, aber als Projekt wurde es im 19. Jahrhundert von Dichtern und Denkern geschaffen, gerade auch solchen, die nicht zur Mehrheitsbevölkerung gehörten, um einen heutigen Begriff zu verwenden.

Was trugen kulturelle und religiöse Minderheiten zum Projekt Europa bei?

Besonders in Auseinandersetzung mit dem Aufkommen von Nationalismus und nationalem Chauvinismus sind sie relevant. Nationalistische Chauvinismen in allen gesellschaftlichen Schichten versuchen, alle anders denkenden Gruppen und vor allem die kulturellen Minderheiten an den Rand der Gesellschaft zu drängen. Gerade das späte 19. Jahrhundert zeigt, wie sehr etwa jüdische Intellektuelle Vorreiter des europäischen Projekts waren, indem sie auf Teilhabe drängten. Aussicht auf gleiche Rechte hatten die Minderheiten und hatten speziell die Juden nur innerhalb eines gemeinsamen europäischen, also multiethnischen, multikulturellen Gemeinwesens.

Minderheiten belebten also das kollektive Bewusstsein?

Die Nationalismen des neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts beruhten auf der Homogenität eines Staatsvolkes, gerade in Deutschland: ein Staat, eine Religion, eine Rasse, alle vom selben Blut. Minderheiten gingen in dieser Einheitlichkeit nicht auf. Sie waren in Europa daher besonders häufig die Aufklärer, die diese Teilhabe für alle Menschen einforderten. Und Europa war der Raum in dem dies verwirklicht werden konnte. Nicht auf vollkommene Weise, aber auch nicht auf so ganz schlechte Weise. Das ist innerhalb der letzten 60 oder 70 Jahren auf diesem Kontinent gelungen.

In Ihren Essays führen Sie ja zahlreiche Beispiele an, um diesen Punkt zu verdeutlichen. Sie schreiben über die Koran-Studien Goethes, über die Faszination des iranischen Schriftstellers Sadeq Hedayat (1903-1951) an dem auf Deutsch schreibenden Prager Juden Franz Kafka. Trotz Ihrer vielen Belege für einen intellektuellen Optimismus aber doch auch ein Wehklagen. Warum?

Mein Wehklagen gilt nicht dem europäischen Projekt, sondern dem Niedergang des europäischen Projekts. Und das tut mir nicht nur wirklich in der Seele weh. Ich sehe nämlich die Gefahren, auch für diesen Kontinent, wenn dieser nicht mehr seinem eigenen Anspruch gerecht wird.

Wie reagieren Menschen darauf, wenn Sie die Europäer an das Ethos ihres Kontinents erinnern?

Wenn Sie auf die Reaktionen auf meinen Artikel in der FAZ anspielen, indem ich die europäische Flüchtlingspolitik kritisiert habe - jemand wie ich hat sich daran gewöhnt, wenn er hiesige Verhältnisse kritisiert, dass ihm dann gesagt wird, ich soll doch besser auf meine eigene Welt schauen. Das »geh doch nach Hause« ist da noch das Harmloseste.

Wie häufig wird das gesagt?

Nicht so häufig, dass ich beim nächsten Artikel weniger kritisch wäre. Aber es gibt auch einen Folgeartikel in der Zeitung, der mir sehr höflich – also argumentativ – wiederspricht. Dieser fragt, »wieso schimpft er [Kermani] nicht auf die afrikanischen Potentaten?« Hier muss ich sagen: Aber Entschuldigung, vergleiche ich denn Europa mit einer afrikanischen Diktatur, vergleichen wir Europa mit den Wahhabiten in Saudi-Arabien? Also das ist doch überhaupt nicht der Vergleich. Ich kann doch nicht sagen, weil die Saudis auch schlimm sind, können wir es uns leisten, dass jeden Tag Menschen im Mittelmeer sterben. Wir haben doch aufgrund unserer Geschichte einen anderen Anspruch. Deshalb kritisiere ich die Flüchtlingspolitik.

Ist das Ablenken auf andere Blitzableiter ein Manöver der Ratlosigkeit?

Wie billig ist das denn, aus einer deutsch-europäischen Perspektive aufzuzählen, wer alles irgendwo in der Welt sich noch schuldig macht. Es geht in der Öffentlichkeit doch darum, über unsere eigene Verantwortung nachzudenken. Deshalb ist die Kritik an Europa zugleich auch ein Glaube an Europa. Nämlich an ein Europa, das sich anders verhalten kann. Und zwar nicht so, wie es sich heute und besonders an seinen Außengrenzen verhält und tötet. Jeden Tag tötet Europa auf die Art und Weise, wie es seine Grenzen abschottet.