Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
(c) Katrin Salentin

Was heißt Konstruktivismus?

Auf die Einsicht in die Vielschichtigkeit von Wirklichkeit kann kein Religionsunterricht verzichten. Aber wie gelingt es, die häufig verengten und naiven Realismen aufzubrechen? Ein Blick in zwei Unterrichtswerke gibt Aufschluss.

Das Thema „Wirklichkeit“, mit dem sich Einzelprobleme
wie „Was ist wirklich?“, „Können
wir die Wirklichkeit wahrnehmen?“ oder
„Was ist überhaupt Wirklichkeit?“ etc. verbinden,
findet seine terminologische Entsprechung unter anderem
in dem Begriff des Konstruktivismus, mit dem
eine Vielfalt philosophischer Richtungen mit erkenntnistheoretischer
Fragestellung bezeichnet wird. In
einem ersten Schritt meiner Überlegungen stelle ich
nun dar, was unter Konstruktivismus zu verstehen
ist, in einem zweiten Schritt gebe ich einen Überblick
über die Behandlung des Themas in zwei bekannten
Unterrichtswerken, bevor ich drittens und abschließend
zu allgemeinen religionspädagogischen Folgerungen
komme.

Was ist Konstruktivismus?

Der Konstruktivismus ist eine erkenntnistheoretische
Position, die in der Philosophiegeschichte in
mehr oder weniger radikalen Spielarten aufgetreten
ist. Gemeinsam ist diesen die Infragestellung der von
ihren Antipoden, den (naiven) Realisten, vertretenen
Ansicht, dass eine objektive bzw. wahre Erkenntnis
eines Gegenstandes dadurch am ehesten möglich ist,
dass der Erkennende sich von allen subjektiven und
zufälligen Bedingungen seiner individuellen Wahrnehmung
zu befreien trachtet. Der betreffende Gegenstand,
so die Realisten, besitze ein objektives Ansich-
Sein, das es durch Anstrengung und Sorgfalt zu
erfassen gelte. Wahrheit wäre nach einer bekannten
Formel von Thomas von Aquin als „adaequatio rei et
intellectus“ zu definieren, also als das Bemühen des
Verstandes, das Wesen des Gegenstandes des Erkenntnisstrebens
gedanklich zu erfassen.

Widersprochen wurde dieser Meinung schon im
5. Jahrhundert von den Sophisten, die es durch die
platonischen Dialoge zu einer gewissen Berühmtheit
gebracht haben. So möchte Protagoras mit seinem
Homo-Mensura-Satz („Der Mensch ist das Maß aller
Dinge, der Seienden, dass sie sind, der nicht seienden,
dass sie nicht sind.“) zum Ausdruck bringen, dass es
Wahrheit jenseits des erkennenden Subjekts und damit
eine objektive Erkenntnis nicht gibt.

Über zweitausend Jahre später gelangt Immanuel
Kant zu einem ähnlichen Ergebnis. Die mageren
Ergebnisse traditioneller Metaphysik sieht er darin
begründet, dass bislang präsumiert wurde, „alle unsere
Erkenntnis müsse sich nach den Gegenständen
richten“, eine Hypothese, der er einen Neuansatz gegenüberstellt:
„man versuche es daher einmal, ob wir
nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser
fortkommen, dass wir annehmen, die Gegenstände
müssen sich nach unserer Erkenntnis richten“. Kant
selbst vergleicht den von ihm angestoßenen Paradigmenwechsel
mit der Kopernikanischen Wende in der
Astronomie: „Es ist hiermit ebenso, als mit den ersten
Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es
mit der Erklärung der Himmelsbewegungen nicht gut
fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer
drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht
besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich
drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ“.

Konstruktivismus im Unterricht

Dass die philosophische Theorie des Konstruktivismus
keine abgehobene Geheimlehre
darstellt, lässt sich dadurch belegen, dass
ihre Thesen Eingang in Philosophie-, Ethikund
Religionsbücher für den Oberstufenunterricht
gefunden haben. Durchaus affirmativ
zitieren zum Beispiel die Herausgeber
des Lehrwerks „Vernünftig glauben. Arbeitsbuch
für den katholischen Religionsunterricht“
4 einen Hauptvertreter des modernen
Konstruktivismus, Ernst von Glasersfeld:
„Die Konstruktivisten gehen nun davon aus,
dass wir die Welt, in der wir zu leben meinen,
uns selbst zu verdanken haben. Erkennen
und Wissen sind nicht Niederschlag eines
passiven Empfangens, sondern Ergebnis
von aktiven Handlungen eines denkenden
Subjekts. Unsere Wahrnehmung entdeckt
keine objektive Realität, sondern organisiert
die Erfahrungswelt.“ Um zu einer solch abstrakten
Aussage zu gelangen, empfiehlt sich
eine adressatengerechte Sensibilisierung
der Schülerinnen und Schüler für die Fragen
nach dem Wirklichen. In dem Lehrbuch
für den Philosophieunterricht „Zugänge zur
Philosophie 1 – Neue Ausgabe“5 gelingt dies
durch die Auseinandersetzung mit sogenannten
optischen Täuschungen oder Kippbildern;
erstere erzeugen einen subjektiven
Eindruck, der in einem Gegensatz zum geometrischen
Messergebnis steht (gerade Linien
werden als gekrümmt wahrgenommen),
letztere lassen im betrachtenden Subjekt
zwei mögliche Bilder (im Beispiel entweder
eine sich abwendende junge oder eine nach
unten schauende ältere Dame) entstehen. Da
es bei der entsprechenden Wahrnehmung
kein Richtig oder Falsch gibt, bietet die Aufgabenstellung
der Lehrbuchautoren „Woher
wissen Sie jeweils, welches Bild das richtige
ist?“ (20) einen sinnvollen, da provozierenden
Einstieg; der Weg von der Dualität
der Interpretation eigener Wahrnehmung
zur Multiperspektivität von Erfahrungen
und zur produktiven Deutungsunsicherheit
ist von hier aus nur noch ein kleiner Schritt.
Einer großen Beliebtheit erfreuen sich im
Zusammenhang irritierender grafischer
Darstellungen die Bilder von M. C. Escher,
die „das Unmögliche möglich machen“: Zwei
Hände zeichnen sich gegenseitig oder ein
Wasserfall erscheint als Perpetuum mobile.
Zirkularität, Unendlichkeit und Relativität
sind die Motive, die sich mit Hilfe von
Eschers Kunstwerken zur bewussten Wirklichkeits-
Verfremdung im Unterricht einsetzen
lassen. Eine abstraktere und eventuell
kognitiv anspruchsvollere Ebene wird durch
Gedankenexperimente erreicht. So lassen die
Autoren der „Zugänge“ die Schülerinnen und
Schüler zum Beispiel darüber nachdenken,
wie ein „Lebensweg [aussähe], der mit dem
Tod beginnt und rückwärts verläuft bis zur
Geburt.“ (23). Eine zweite Möglichkeit zum

Mit der Diskussion über Wirklichkeit
wird nicht nur eine erkenntnistheoretische
Fragestellung, sondern
auch eine existentielle Tiefe berührt.

Jochen Ring

gedanklichen Experimentieren besteht darin,
Schüler das Leben der Menschen aus der
Perspektive von Außerirdischen beschreiben
zu lassen; Be-fremd-en wird dann nicht
durch das real nicht Existierende Andere,
sondern durch die distanzierte Betrachtung
des gewohnten Eigenen ausgelöst.

Gipfelt die Auseinandersetzung mit dem
Konstruktivismus in den „Zugängen“ in der
Bearbeitung klassischer Positionen der Philosophiegeschichte,
konkret in der Charakterisierung
der „Erkenntnis als Leistung des
Geistes bei Descartes und Platon“ (31), geht
es den Autoren von „Vernünftig glauben“
mehr um eine christliche Apologetik vor einer
kritischen und postmodernen Schülerschaft.
Das entsprechende Kapitel trägt den
Titel „Wirklichkeit – die eine oder unendlich
viele?“ (8-43) und kann meines Erachtens
trotz der bestehenden Zeitknappheit in
der Oberstufe gewinnbringend als eine Art
theologisches Propädeutikum vor die Auseinandersetzung
mit den eigentlichen Themen
des Lehrplans für die Sekundarstufe II
in Rheinland-Pfalz (1. Halbjahr: Anthropologie; 2. Halbjahr: Gotteslehre) geschoben
werden, wenn sich der Lehrende auf wenige
Materialien beschränkt. Der Text „Die Chronik“
(10f.) von Günther Anders beschreibt
die Unfähigkeit eines Malers, ein Bergmassiv
so auf die Leinwand zu bringen, dass es
dem Vergleich mit der Wirklichkeit standhält.
Die scheinbare Niederlage – er legt
statt eines fertigen Bildes nur Skizzen vor
– führt zu der nicht zufällig in Form einer
Frage formulierten Erkenntnis „Und wie, [...]
wenn der Berg selbst nichts wäre als eine –
Chronik?“ Schon dieses erste Medium der
Unterrichtsreihe vermag bei den Schülern
eine Ahnung davon aufkommen zu lassen,
dass Wirklichkeit kein statisches Gebilde
darstellt, sondern durch subjektive, immer
Fragment bleibende Wahrnehmung erzeugt
wird. Für sehr geeignet halte ich die für ein
Schülergespräch vorgesehenen Thesen, die
im Anschluss an die Textbearbeitung diskutiert
werden sollen. Unter anderem finden
wir folgende Behauptungen:

Wirklich ist, was uns durch andere überliefert
wird.

Liebe und Treue sind Wirklichkeit.

Wirklichkeit ist eine Frage der Perspektive.

Ob Gott wirklich ist oder nicht, hängt davon
ab, ob wir ihn brauchen.

Der Gedankengang, den die Autoren von
„Vernünftig glauben“ verfolgen, wird unter
der Überschrift „Der Streit zweier erkenntnistheoretischer
Systeme“ auf der Grundlage
von Überlegungen Georg Steiners auf
die Entgegensetzung von „Realismus und
Konstruktivismus“ (21) zugespitzt: Die erste
Richtung kann, da sie eine „objektive Welt“,
ein „Da-Draußen“ unterstellt, als Fenstertheorie,
die zweite erkenntnistheoretische
Haltung als Spiegeltheorie bezeichnet werden.
Für sie gilt: „An sich [...] ist ‚Wirklichkeit’,
wie immer sie beschaffen sein mag,
unzugänglich. [...] Sie mag auf eine kollektive
Halluzination, einen gemeinsamen Traum
hinauslaufen“. Mit Bezug auf die antike
Skepsis bietet der sich anschließende Text
von Ernst von Glasersfeld (22f.) eine Lösung
für die Frage, wie in der subjektiv konstruierten
Wirklichkeit verlässliche Orientierung
möglich sein soll. Im Sinne einer pragmatischen
Wahrheitstheorie verabschiedet
sich der Konstruktivist von der Vorstellung
eines Vergleichs des Wahrgenommenen mit
der Realität und operiert mit der Metapher
des Schlüssels, der in ein Schloss „passt“.
Das erkennende Subjekt erschließt sich
Wirklichkeit, indem es einen Schlüssel benutzt:
„Von den Berufseinbrechern wissen
wir nur zu gut, dass es eine Menge Schlüssel
gibt, die anders geformt sind als unsere,
aber unsere Türen nichtsdestoweniger
aufsperren. [...] Vom Gesichtspunkt des radikalen
Konstruktivismus aus stehen wir
alle – Wissenschaftler, Philosophen, Laien,
Schulkinder, Tiere, ja, Lebewesen aller Art –
unserer Umwelt gegenüber wie ein Einbrecher
dem Schloss, das er aufsperren muss,
um Beute zu machen.“

Dadurch, dass die Lehrbuch-Herausgeber
von „Vernünftig glauben“ auf die beschriebene
Weise den Wirklichkeitsbegriff relativieren
und damit ent-ideologisieren, bereiten
sie den Boden für ein Wirklichkeitsverständnis,
das entgegen „einer verabsolutierten
Rationalität“ (Küng) Raum gibt für Perspektiven-
Vielfalt und die „vielschichtige Wirklichkeit“,
die, konkret, die unterschiedlichsten
Beschreibungen zum Beispiel einer im
Museum ausgestellten Goldmaske zulässt:
„Jede Beschreibung und Beurteilung, die des
Chemikers, des Historikers, des Kunstliebhabers,
kann wahr sein – je nach Perspektive“
(26). Es ist nur konsequent, wenn auf einer
solchen Basis „Zeichen der Transzendenz“
(27) in den Blick geraten. „Transzendenz im
Alltag“ ereignet sich in der Benutzung eines
Aluminiumbechers, der über Jahrzehnte hinweg
in einem dreizehnköpfigen Haushalt gebraucht
wird (Boff), sie wird evoziert durch
die Sakramentalität eines Gegenstandes, der
das erlebende Subjekt die Vieldimensionalität
der Wirklichkeit erfahren lässt.

Für die Fügung, die Wirklichkeit in der
Wirklichkeit zu übersteigen, das Gewohnte
zu verlassen und zu überschreiten, verwenden
die Herausgeber des genannten
Lehrbuchs die Begriffe „Erschließungserfahrung“
und „Disclosure-Erfahrung“. Dazu
erläutert Schillebeeckx (29): „In registrierbaren Fakten erschließt sich so eine tiefere
Wirklichkeit, wodurch der, der diese disclosure-
Erfahrung erlebt, zugleich zu sich
selbst kommt.“ Eine besondere Form der Erschließungserfahrung
stellt die religiöse Erfahrung
dar. Der im Buch Genesis beschriebene
Jakobskampf wird in dem Lehrwerk als
literarische Fixierung einer solchen religiösen
Erschließungserfahrung kategorisiert.
Nicht nur in der jüdischen und christlichen
Religion werden solche Arten individueller
Offenbarungserlebnisse als mögliche Wege,
sich vom Transzendenten, dem personalen
Gott berühren zu lassen, gesehen. Entgegen
manchen radikalkonstruktivistischen
Verzerrungen, die die Grenzen der Erkenntnistheorie
zur Ontologie unzulässig überschreiten,
handelt es sich um legitime, vor
der Vernunft durchaus verantwortbare Versuche
der Annäherung an ein „extra nos“,
dessen Möglichkeit ebensowenig wie seine
Unmöglichkeit bewiesen werden kann.

Religionspädagogische Überlegungen

Der Religionspädagoge Rudolf Englert
hat mit „Religion gibt zu denken“ eine Religionsdidaktik
vorgelegt, die meines Erachtens
zur Pflichtlektüre jedes Theologen
gehören sollte. Sie enthält im Hinblick auf
die Frage nach der „Wirklichkeit“ erstaunliche
Parallelen und Ergänzungen zu dem im
letzten Kapitel besprochenen Unterrichtswerk
„Vernünftig glauben“. Was dort unter
„disclosure“ firmiert, kehrt hier als „eine Art
Kehrtwendung“ (399), als Metanoia, wieder,
eine Sinnesänderung also, welche Englert
mit Platons Höhlengleichnis, mit dem Exodus
aus der Finsternis verknüpft: „Bildung
ist demnach nicht einfach die Ansammlung
von Wissen, sondern vielmehr eine Art
Kehrtwendung. Was den der Höhle Entronnenen
von den dort Zurückgebliebenen unterscheidet,
ist nicht, dass er mehr weiß als
diese, sondern dass sein Bewusstsein eine
neue Qualität gewonnen hat. Es geht nicht
um einen quantitativen Zuwachs, sondern
einen qualitativen Sprung. Ähnliches finden
wir auch in der Botschaft Jesu. Denn Jesus
sagt ja nicht: ‚Macht noch besser, was ihr
ohnehin tut’, sondern: ‚Kehrt um!’.“

Auch Englert macht damit dem Leser deutlich, dass
mit der Diskussion über Wirklichkeit und konstruktivistische
Anschauungen nicht nur eine erkenntnistheoretische
Fragestellung, sondern existentielle
Tiefe berührt wird. Die Voraussetzungen für Erkennen
und Handeln von Subjekten sind nicht nur biologischer
Natur und liegen nicht nur in kognitiven
Strukturen, sondern vielmehr in jenen fundamentalen
Dimensionen des Menschseins verankert, die die Religionen
mit Hilfe mündlicher Tradition, heiliger Texte
und liturgischer Vollzüge seit je kultiviert. Es könnten
sich nun weitere Überlegungen darüber anschließen,
mit welchen Narrativen gestern und heute Gesellschaften
die Wirklichkeitserschließung ihrer Mitglieder
beeinflussen und prägen, es mag jedoch der
Hinweis genügen, dass Englert in dieser Hinsicht auf
Johann Baptist Metz rekurriert: „Das Christentum sei
schließlich in erster Linie nicht eine Argumentations-,
sondern eine Erzählgemeinschaft [...]. Der Kern seiner
Botschaft stecke in Geschichten, die von ungeahnten
Möglichkeiten erzählen“ (301), und im Anschluss an
Paul Ricoeur formuliert: „Beim Versuch zu erkennen,
was mit ‚Gott’ gemeint ist, vermag man [...] nicht zu
einem ‚Gott an sich’ durchzustoßen. Man ist vielmehr
auf die Voraussetzung eines Erzählzusammenhangs
angewiesen, in dem das Wort ‚Gott’ gebraucht und
immer wieder kommentiert wird. Aus christlicher
Sicht ist dieser Erzählzusammenhang hauptsächlich
die Bibel.“ (355)