Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
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Negativer Absolutismus

Pariser Augenblicke 8: In der Moderne hat sich eine leere Wirklichkeit eingeschlichen, die im Grunde einem Antihumanismus das Wort redet. Ein Plädoyer für eine subversive Körperlichkeit.

In der besten aller möglichen Welten, ist das
Wirkliche vernünftig und der Rest uninteressant,
wegen seiner „Kollateralschäden“ an diesem
inzwischen gefühlsunechten Ideal ja nicht einmal
wünschenswert. Träume müssen haltbar sein!

Bei allen anderen, „realeren“ Welten lohnt ein genauer
Blick oder auch zwei: „Was ist der Fall? Und
was steckt dahinter?“ muss es dann heißen! Das gilt
insbesondere für die Welt von heute, in der das Zusammenleben
im Kleinen wie im Großen (wieder)
schwieriger wird und diese Probleme nicht nur ungelöst
sind, sondern als bedrängend wahrgenommen
werden. Unsere Welt ist nicht ideal, sie ist real.

Aber was heißt das? Es ist ein Grund nicht nur
genauer hinzuschauen, sondern auch selbstkritisch
dabei zu fragen: Schaut man heute wirklich so genau
hin, wie man meint? Oder schon zu genau, weil alles
von allen in der Arena der Öffentlichkeit (Internet) mit
Argusaugen beobachtet wird und man ja nichts falsch
machen will? Richtig zu sehen, reicht trotzdem nicht!
Man muss auch sicher sein, irgendetwas zu sehen.
Noch selbstkritischer: Hat man sich vielleicht in seine
Beobachtung verrannt –und sieht vor lauter Analysen,
Tatsachen und Zahlen die Welt, ihre Menschen und
Probleme nicht mehr?

Aber wie lange erträgt man, dass hinter den Fassadentatsachen
angeblich nichts steckt bzw. stecken
soll – nicht einmal ein tieferer Sinn? Wem könnte klar
sein, was der Fall ist, ohne zu wissen, was das für
ihn bedeutet? Das geht heute weder links des Rheins
noch rechts des Rheins; obgleich es die Moderne in
gewisser Weise für die ganze Welt vorgesehen hatte:
Sie hatte (objektiven) Ereignissen zugleich die Qualität
von (subjektiven) Erlebnissen zugeschrieben – und
alles Subjektive mit katastrophalen Folgen hinwegrationalisiert.

Eine Diktatur des Objektivismus?

Beispiel Kirche: Empirisch gesehen geht es der deutschen
Kirche besser als der französischen. Die Eckdaten
des kirchlichen Lebens sprechen zu ihren Gunsten;
es gibt in Deutschland einen durchschnittlich
höheren Kirchenbesuch, vergleichsweise mehr Eheschließungen
und Erstkommunikanten, auch mehr
Priester und pastorale Mitarbeiter, insgesamt mehr
öffentlich wirksame Präsenz und zahlreiche steuerliche,
organisatorische Privilegien, von denen die
strukturschwache französische Kirche nicht einmal
zu träumen wagte. Auch der deutschen Wirtschaft
geht es statistisch besser als der französischen. Das
BIP ist höher, die Arbeitslosigkeit niedriger. Dasselbe
gilt für die Politik. Erst befand sich die fünfte Republik
Frankreichs nur wegen massiver Terrordrohungen
im offiziellen Ausnahmezustand, dann auch
inoffiziell, weil ein amtierender Präsident zum ersten
Mal nicht mehr zur eigenen Nachfolge antrat, die
staatstragenden Parteien sogleich abgewählt wurden
und ein Newcomer nachfolgt, der die notwendige Modernisierung
zwar als Person verkörpert, ohne aber
(wie einige seiner unterlegenen Gegner) selbst an einen Umbau zur sechsten Republik zu denken. Viel
Dramatik, viel Tragik und noch mehr Rauch, ohne
deutliche Zeichen eines erkennbaren Endes des inzwischen
permanenten Ausnahmezustands links des
Rheins. Währenddessen wird Angela Merkel unbestritten
als Parteichefin wiedergewählt und vielleicht
doch noch „ewige Kanzlerin“.

Mit der französischen Daseinsheiterkeit ist es angesichts
solcher ungünstigen linksrheinischen Verhältnisse
von daher nicht mehr weit. Im Gegenteil, die
lange Zeit als typisch deutsche Zögerlichkeit und Verdrossenheit
bekannte „german angst“ ist sozusagen
längst über den Jordan gegangen, hat die Rheinseite
gewechselt, und grassiert unter den Franzosen als „déclin“
inzwischen als nationales Syndrom. Befürchtet
wird das „Deklinieren“ nach unten, es herrscht Sorge
vor dem eigenen Abstieg. 16 Jahre nach dem ersten
deutschen Pisa-Schock werden die eigenen (noch bedenklicheren)
Pisa-Ergebnisse endlich so ernst wie
in Deutschland genommen und lösen ministerielle
Rechtfertigungsdiskurse aus, aber immer noch keinen
Reformzwang wie einst rechts des Rheins.

Ganz neu ist dieses Phänomen hinter der Abstiegsangst
nicht, es ist nicht einmal ein rein französisches
Problem, sondern ein europäisches, wahrscheinlich
sogar globales, kurzum: ein modernes. Für seine Bedeutung
entscheidend ist, dass es ein altes Erkenntnisproblem
der Moderne auf neue Weise zeigt, nämlich:
Zwar darf von den (französischen) Verhältnissen
auf die Betroffenen (Franzosen) geschlossen werden, Umgekehrtes soll jedoch verboten sein; hier drohe
Subjektivismus! Das ist durchaus möglich, aber warum
droht eigentlich kein Objektivismus von der anderen,
einschlägigen Seite her? Die Tatsachen sprechen
doch angeblich „für sich“.

Warum soll Transparenz heute der absolute (!) Informationsmaßstab
sein, wenn dabei letztlich genügt,
dass sich die Informierenden vor den zu Informierenden
erfolgreich verstecken und so tun (müssen),
als ob es sie nicht gäbe? Welchen Vorteil bringen evidenzbasierte
Medizin oder entsprechende Industrieprodukte
(TTIP), wenn gegen sie, an den Betroffenen
vorbei, ein Einspruch nur als Streit von Experten unter
sich behandelbar ist? Wenn Statistik gegen Statistik
antritt, bleibt die Frage, wie viele ehrbare Frauen
es gibt, auf der Strecke – so kritisierte Balzac einst
diese eindimensionalen Wahrnehmungen in seinem
Sittengemälde „Physiologie der Ehe“. Was hätte er
wohl erst an den modischen Meta-Studien auszusetzen,
die z.B. die Wirklichkeit erfolgreichen Unterrichts
als statistisches Wissen über statistisches
Wissen aufbereiten? Wahrscheinlich hätte er keine
Meta-Meta-Studien gebraucht, um sich am sterilen
Verfahren zu stören und in seiner Kritik bestätigt zu
fühlen. Es scheint, in der Wissenschaft, ja sogar in
der Wirtschaft und selbst in Erziehung und Politik
haben Zahlen Konzepte ersetzt. Realität als Denkersatz?
Ist der Ideenhimmel verbraucht und die Welt
wieder eine flache Scheibe – mit Ziffern einseitig bedruckt?

Der Eindruck trügt! Wir leben im postfaktischen
Zeitalter, wo eine Revolte gegen die Vorherrschaft von
Tatsachen im Gang ist; einerseits für ideologische
Zwecke gewiss leicht zu missbrauchen, um missliebige
Wahrheiten zu ignorieren, andererseits aber
auch hilfreich, um gegen die dominierenden und einengenden
Diskurse die Freiheit und Vielfalt von Meinungen
zurückzuerobern. Es ist nicht nur im Sinne der
Feinde der Wissenschaft, sondern auch im Sinne ihrer
Verfechter, um die Grenzen des empirischen Zugriffs
auf Wirklichkeit zu wissen: Jeder Befund wird erst

Wo aber das Neutrum regiert,
ist kein Platz für Leidenschaft oder
Lebendiges.

Michael Hochschild

durch Interpretation zum Ergebnis, erstens. Zweitens
kommt keine empirische Studie ohne ihre Reproduktion
über den Status einer qualifizierten Privatmeinung
hinaus, was außerhalb von Naturwissenschaften noch
immer zu selten gelingt und im Gegenstand begründet
ist; hard sciences handeln von soft problems und
soft sciences mit hard problems. Drittens sind Zahlen
nur solange Aussagen von qualitativer Bedeutung, wie
wir im Massenzeitalter leben. Je mehr die Individualisierung
um sich greift, desto stärker zersplittert die
einförmige Masse in unförmige Mengen mit eigenen
Gesetzmäßigkeiten und qualitativen Standards. Der
„Gold-Standard“ für Naturwissenschaftler ist z.B. eine
Veröffentlichung in einem führenden Journal, das sichert
die öffentliche Relevanz und die Zitation des Artikels/
Autors; davon kann bei Sozial- und Geisteswissenschaftlern
nicht die Rede sein. Hier sind die Ruinen
des Herrschaftswissens schon vor langer Zeit geschliffen
worden, selbst wenn entsprechende Attitüden bisweilen
noch gefeiert werden.

Leere Wirklichkeit als Antihumanismus

Die These lautet daher: Es droht kein Objektivismus
vom aktuellen Tatsachenglauben, weil längst Neutralität
herrscht! Wo aber das Neutrum regiert, ist kein
Platz für Leidenschaft oder Lebendiges. Die Anforderungen
am Arbeitsplatz machen das überdeutlich:
Je professioneller es zugeht, desto weniger darf die
jeweilige Person in den Vordergrund treten; gefragt
ist nur der Rolleninhaber, kompetent und emotionsfrei.
Es hat sich in der Moderne ein bestimmtes Konzept
eingebürgert, das Konzept einer leeren Wirklichkeit; genauer gesagt: einer von Menschlichem, ja von
Menschen entleerten Wirklichkeit. Zahlen sind ihre
Chiffren, sozusagen die Statisten einer leeren Wirklichkeit.
Algorithmen und Roboter ihre Vollzugsbeamten,
heute schon, aber erst recht in der Zukunft.

Leere Wirklichkeit heißt zunächst: Der Sachzusammenhang
hat den Vorrang vor dem Lebenszusammenhang.
Ereignisse sollen für Erlebnisse entscheidend
sein. Als ob die französische Trennung von Staat und
Religion von 1905 noch die Realität in den Pariser
Vorstädten wie Saint Denis von heute beschreibt. Tatsächlich
sind dort viele Cafés „frauenneutral“; d.h.
fest in den Händen muslimischer Männer, die ihr Territorium
gegen ortsansässige Fraueninitiativen selbst
öffentlich mit dem Hinweis verteidigen, hier sei „man“
bei ihnen und nicht mehr in Paris. Das Verschwinden
von Frauen aus dem öffentlichen Raum ist zweifelsohne
ein hoch politisches Ereignis, aber nicht Grund,
sondern Folge eines Erlebens und Wollens!

Im Konzept der leeren Wirklichkeit ist gefühlte
Wirklichkeit aber bestenfalls ein reales Produkt,
schlimmstenfalls eine (störende) Protestformel alternativer
sozialer Bewegungen, eigentlich nur ein Beitrag
zur Wettervorhersage, dass es doch kälter wird,
als es ist. Bei diesem Konzept handelt es sich um methodologischen
Antihumanismus. Je nach ethischer
oder politischer Orientierung wäre das bereits ein inakzeptables
Problem.8 Man kann aber darüber streiten,
ob man einen blinden Fleck (der Methode) mit
einem anderen (dem Menschen) auflösen oder doch
nur verschieben kann. Niklas Luhmann hat mit seiner
Theorie der modernen Gesellschaft vorgemacht, dass
es durchaus gewinnbringend für die Erkenntnisse zu
ihrem Funktionieren sein kann, wenn man den Menschen
systematisch aus dem Analysezusammenhang
ausblendet, um sich auf eine (soziale!) Wirklichkeit
zu konzentrieren. Worüber man nicht streiten kann,
es aber stillschweigend in Kauf nimmt, sind die Konsequenzen
dieser leeren Wirklichkeit – ihr Absolutismus!
Bei Luhmann hieß das: Die sozialen Systeme
kennen nur sich und ihre Autopoiesis.

Erkenntnis ist immer relativ. Ohne Bezugssystem,
ohne Apriori wäre sie gar nicht denkbar. Oder eben absolut
an und für sich. Der Hinweis auf „die Wirklichkeit“
ist heute gleichbedeutend mit dem Hinweis auf
Gott zu früheren Zeiten – stets soll gelten: So ist das Leben,
da kann man nichts (mehr) machen. Von daher ist
dieses Konzept hochgradig säkularisiert, wenn nicht
anti-religiös. Umso mehr muss es verwundern, dass die
Theologie inzwischen kritiklos auf ein empirisches Paradigma eingeschwenkt hat. Müsste es gerade ihr nicht
darum gehen, sich selbständig zur Wirklichkeit zu verhalten,
als sich von dieser unter Kontrolle und um ihre
metaphysischen Absolutheiten bringen zu lassen?

Seinen antihumanistischen Charakter offenbart jener
Absolutismus der leeren Wirklichkeit derzeit jedoch
vor allem in der Politik, genauer gesagt in der
ungelösten europäischen Migrationsfrage. Da blockieren
nicht nur osteuropäische Regierungen im Namen
von zu nationalen Identitäten zugespitzten „Verhältnissen“
das Schicksal von abertausend geflohenen
Mitmenschen; selbst in Frankreich wird um den (vorübergehenden)
Zuzug von einigen Hundert Flüchtlingen
bis in den Elysée diskutiert und gerungen. Stets geht
es um Zahlen, wo es sich um Menschen handelt. Auch
in lebensweltlicheren Kontexten ist das längst üblich.
Vom Restaurantbesuch über Airbnb bis zu facebook
evaluiert, sprich: kalkuliert jeder jeden.

Negativer Absolutismus & seine natürlichen Feinde

Dieser Absolutismus ist nicht leer wie seine quantifizierte
Wirklichkeit, er ist negativ, d.h. ab- und ausgrenzend.
Er will nur sich, kennt kein höheres Wesen, keine
edleren Werte. Deshalb ist er ein willkommenes Mittel
in der Hand von Populisten, um die Ausgrenzung anderer
zu praktizieren oder mindestens zu fordern. Unter
diesen Bedingungen mutiert der systematische Antihumanismus.
Aus der Methodologie wird Methode, aus
der Ignoranz des Menschen seine Verachtung.

Wir lebten nicht in postmodernen Zeiten, wenn es
dazu nicht längst subversive Gegenbewegungen gäbe.
Subversiv, weil diese Gegenbewegungen nicht im
Sinne einer humanistischen Opposition bloß ein Zeichen
setzen, das kurzfristig wirkt, aber danach alles
beim alten, modernen Zahlenspiel belässt. Ein solches
Zeichen hatte Angela Merkel zwar 2015 geschafft, als
sie angesichts von dramatischen Migrationsverhältnissen
vor den Toren Deutschlands eine Willkommenskultur
herbeirief. Aber daran ist sie auch im
Nachhinein gescheitert, weil Europa wieder Migrationsquoten
verhandelt, als ob nichts geschehen wäre.

Die subversiven Gegenbewegungen setzen zwar
auch humanistische Zeichen, aber sie führen damit
einen Angriff auf den vorherrschenden Absolutismus
und versuchen das moderne Konzept der leeren Wirklichkeit
zu stürzen. Die Grundidee ist dabei so simpel
wie effektiv: Man führt den Menschen über seinen
Körper wieder in die Politik bzw. Öffentlichkeit ein;
die Bedeutung des Menschen wird über seine unleugbare
Präsenz und Ausdehnung so zurückerobert. Die Besetzung öffentlicher Plätze wie in Paris die Protestbewegung
„Nuit debout“ 2015/16, „Occupy Wallstreet“
2011 in New York oder die sit-ins in Hongkong während
der „Umbrella revolution“ 2014 stört massiv die
Mobilität von Menschen als Massen und bedrängt
bisweilen sogar die kapitalistischen Schlagadern der
modernen Gesellschaft; sie wirkt von daher gerade
dort, wo im Sinne der Humanität Zeichenräume ihrer
Abwesenheit bestehen.

Die subversiven Gegenbewegungen zum modernen
Antihumanismus reduzieren sich jedoch nicht auf
neue Protestbewegungen. Die ultimative Strategie
ist hoch individuell und zugleich extrem öffentlichkeitswirksam,
sprich: theoriebedeutsam. Sie betrifft
die Körper der Menschen selber. Ist ihr Körper nicht
der letzte Zufluchtsort der Non-Utopie, der absoluten
und zugleich humanen Wirklichkeit? Was immer
sie mit ihrem Körper tun oder wollen, ihn schminken,
tätowieren, sportlich herausfordern oder im Sinne
des Genders geschlechtlich reprogrammieren, prägt
die wahrgenommene Wirklichkeit entscheidend. In
diesem Sinne sind heutige Leiberfahrungen wie schon
zu Beginn des Christentums eine Art Matrix neuer Erfahrungen
– und Konzepte.12 Denn der Körper ist immer
zugleich absolut wirklich und unwirklich, in der
Welt voller Gegenstände und außerhalb meiner selbst
– er ist seine eigene Utopie, Schönheit und Gesundheit
bzw. Krankheit. Der eigene Körper ist ein Ort außerhalb
aller Orte. Er ist qua Utopie ein Körper ohne
Körper – eine humanistische Anverwandlung der Moderne
im Zeichen der Postmoderne. Der Körper ist der
Nullpunkt einer neuen humanen Welt. Empirie der
Endpunkt einer menschenvergessenen Moderne. Die
Wahl zwischen der besseren Welt dürfte leichtfallen,
selbst wenn wir weiterhin noch nach der besten aller
möglichen Welten suchen müssen – und davon träumen
wollen. Wie in Frankreich am 8. Mai 1945 – und
2017. In der Wirklichkeit ist kein Neuanfang unmöglich;
so immens die Ausnahmezustände auch sind –
oder die Wirrungen.