Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
William Hogarth (1697-1764), „Four stations of cruelty“ 1751, Zeichnungen, in Stahl gestochen.

„Wer Tiere quält, der quält auch Menschen!“

Heike Baranzke macht deutlich, dass über die tierethische Tauglichkeit des Kantianismus das letzte Wort noch nicht gesprochen ist.

Wer Tiere quält, der quält auch Menschen.“ Wer das sagt, will mehr als einen sachlichen Zusammenhang zwischen dem Verhalten einer Person gegenüber Tieren und dem gegenüber Menschen beschreiben. Hinter dieser Aussage verbirgt sich die Warnung vor den verrohenden sozialen Folgen von Tierquälerei nach dem Muster: Wer Tiere quält, der quält auch Menschen. Menschen zu quälen, ist moralisch verwerflich! Deshalb ist es moralisch verwerflich, Tiere zu quälen! Als ein klassischer Vertreter des so genannten Verrohungsarguments gilt Immanuel Kant, der in § 17 der Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ schreibt: „In Ansehung des lebenden, obgleich vernunftlosen Teils der Geschöpfe ist die Pflicht der Enthaltung von gewaltsamer und zugleich grausamer Behandlung der Tiere der Pflicht des Menschen gegen sich selbst weit inniglicher entgegengesetzt, weil dadurch das Mitgefühl an ihrem Leiden im Menschen abgestumpft und dadurch eine der Moralität, im Verhältnisse zu anderen Menschen, sehr diensame natürliche Anlage geschwächt und nach und nach ausgetilgt wird; […].“

Für diese Erläuterungen befürchteter Folgen von Tierquälerei hatte der Mitleidsphilosoph und Kantkritiker Arthur Schopenhauer nur Sarkasmus übrig: „Also bloß zur Uebung soll man mit Thieren Mitleid haben, und sie sind gleichsam das pathologische Phantom zur Uebung des Mitleids mit Menschen.“, höhnte Schopenhauer in seiner „Preisschrift über die Grundlage der Moral“. Auch Albert Schweitzer zeigt sich in seinem einflussreichen Werk „Kultur und Ethik“ davon überzeugt, Kant habe geglaubt, die „‘menschliche’ Behandlung der Tiere […] als eine Übung der Empfindlichkeit“ hinstellen zu müssen, „die unserem teilnehmenden Verhalten gegen Menschen förderlich ist.“ Nicht zuletzt aufgrund jener prominenten Kritiken an Kants Bezugnahme auf das Verrohungsargument hat sich die philosophisch folgenreiche Meinung verbreitet, Kantianische Ethiken taugten nicht zur Begründung einer Tierethik. Diese Auffassung hat Robert Nozick, flankiert von der durch Jeremy Bentham inspirierten utilitaristischen Tierbefreiungsethik Peter Singers, einmal auf die griffige Formel gebracht: „Utilitarismus für Tiere, Kantianismus für Menschen!

Was aber wäre, wenn die im Verrohungsargument implizierte Behauptung, dass Menschen nur quäle, wer zuvor Tiere gequält habe, falsch wäre, – wenn sich gar, wie Alan Wood einmal bange gefragt hat, herausstellen würde, dass menschenfreundlicher wäre, wer seine Wut zuvor an Tieren abreagiert hätte? Ist es denn überhaupt wahr, dass jeder, der einen Menschen quält, zuvor „zur Übung“ Tiere gequält hat, und wird ein Tierquäler notwendiger Weise zum Menschenmörder? Weder die eine noch die andere These wird sich wohl beweisen lassen. Aber selbst eine empirisch belegbare Erhöhung der Wahrscheinlichkeit einer rohen Behandlung von Menschen nach tierquälerischen Praktiken wäre als primäre Begründung für ein Verbot von Tierquälerei tierethisch sowenig akzeptabel wie der fiktive kausale Zusammenhang zwischen Tierquälerei und Menschenfreundlichkeit für die Forderung von Tierquälerei zur Verbrechensprävention. Es ist die im Verrohungsargument unterstellte Implikation, das Tier sei nichts als ein Mittel zum Zweck für die Kultivierung von Mitmenschlichkeit, die Tierethiker zu Recht rebellieren lässt. – Aber begründet Kant das Verbot, Tiere zu quälen, tatsächlich auf diese Weise? Ist Nozicks Schlussfolgerung, kantianische Ethiken taugten nicht zu tierethischen Begründungen, zutreffend?

Immanuel Kant und William Hogarth

Es ist nicht zu leugnen: Sowohl in § 17 der Tugendlehre in der „Metaphysik der Sitten“ als auch in den von seinen Schülern angefertigten Nachschriften seiner „Vorlesung über Ethik“ macht Kant Gebrauch von dem sogenannten Verrohungsargument. In der Ethikvorlesung erfahren wir auch etwas über die Quelle, aus der Kant das Verrohungsargument bezieht: Es sind die im Jahr 1751 erschienen „Four Stages of Cruelty“ des englischen Moralisten, Kupferstechers und königlichen Hofmalers William Hogarth. Auf den vier Blättern der Grausamkeitsstufen erzählt Hogarth emblematisch die Geschichte von Tom Nero, einem in einer Armenschule im Londoner sozialen Brennpunktviertel Saint Giles aufgewachsenen Waisenknaben mit sadistischem Verhalten. An den Tieren übt der Junge gewissermaßen, was er später als Erwachsener mit scheinbar schicksalhafter Notwendigkeit an Menschen verüben wird. Hogarth, der selbst aus ärmlichen Verhältnissen stammte, gilt als bedeutender Schöpfer eines sozialkritischen und moralistischen karrikaturistischen Genres. Durch seine feine Beobachtungsgabe und detailreiche Darstellung zeigt er die Menschen seiner Zeit als Opfer ihrer Umstände und Marionetten ihrer Leidenschaften.

In seiner Ethikvorlesung beschreibt Kant Hogarths „Cruelty-Zyklus“ mit folgenden Worten: „So zeigt Hogarth in seinen Kupferstücken auf einen Anfang der Grausamkeit, wo schon die Kinder gegen die Tiere solche ausüben, z.E. [zum Exemplum] wenn sie dem Hund oder der Katze den Schwanz klemmen, auf einem anderen Stücke den Fortgang der Grausamkeit, wo er ein Kind überfährt, und dann das Ende der Grausamkeit durch einen Mord, worauf dann der Lohn der Grausamkeit schrecklich erscheint. Dieses gibt gute Lehren für Kinder.“4 Kant übergeht die sozialkritischen Anspielungen in Hogarths offensichtlich schon damals weithin bekannter Darstellung. Er betont stattdessen die moralpädagogische Steigerung der Grausamkeit, die an Tieren beginnt und gegen Menschen endet. Hogarth hat mit der Verbreitung dieser Drucke tatsächlich eine moralpädagogische Absicht bekundet, indem er schrieb: „Die Abdrücke wurden von mir in der Hoffnung verkauft, dass ich die barbarische Behandlung der Thiere einigermaßen würde mindern können, welche die Straßen unserer Hauptstadt jedem Manne von Gefühl so höchst widerwärtig macht. Wenn meine Abdrücke diese Wirkung hervorgebracht und die Fortschritte der Grausamkeit gehemmt haben, so würde ich auf die Entwerfung jener Blätter stolzer sein, als hätte ich die Cartons von Rafaël gezeichnet.“

Mit seinem Cruelty-Zyklus trifft der moralistisch-satirische Künstler den Zeitgeist im 18. Jahrhundert, in dem Tiere – in Abgrenzung gegen die Tier-
automatentheorie René Descartes’ – in christlich wie in säkular begründete Pflichtenlehren einbezogen und parallel zu den Menschenrechten Tierrechte in philosophischen Schriften proklamiert wurden. Die intensiven Tierseelen- und Tierrechtsdebatten der Zeit haben ihre Spuren auch in philosophischen Werken anderer Art hinterlassen, z.B. in der von Peter Singer berühmt gemachten Fußnote in Jeremy Benthams „Introduction to the Principles of Morals and Legislation“ im Revolutionsjahr 1789 und in Kants § 17 der Tugendlehre der „Metaphysik der Sitten“ 1797. Ohne seine Inspirationsquelle zu erwähnen, bedient sich Kant auch in dieser späten Schrift des durch Hogarths Cruelty-Zyklus populär gemachten moralpädagogischen Erziehungs- und Selbstkultivierungsappells, und zwar folgerichtig im Rahmen seiner Tugendlehre.

Kantianismus nur für Menschen?

Die Kantische Tugendlehre hat eine doppelte Funktion: Da ist zum einen die traditionelle empirisch moralpsychologische bzw. -pädagogische Aufgabe, die auf die unaufhörliche moralische Selbstvervollkommnung des menschlichen Individuums zielt. Zum anderen legt Kant durch eine selbstreflexive Analyse die nicht-empirische Bedingung der Möglichkeit für moralisches Handeln frei: die Selbstverpflichtungsfähigkeit des Menschen als prinzipielle Fähigkeit zur Autonomie, d.h. zu der Möglichkeit, seinen Willen durch die eigene Vernunfteinsicht zu bestimmen.

Kants Ethik der Autonomie ist darin unüberholt, dass sie die unhintergehbare Rechtfertigungsbedürftigkeit unserer moralischen Praxis auf den Begriff gebracht hat.

Heike Baranzke

Allein diese ist begründungstheoretisch relevant. Nach Kant weiß, wer sich als verpflichtungsfähig erkennt, zugleich, dass er auch Pflichten hat, nämlich, das Gute um des Guten willen zu tun. Die moralische Idee der Autonomie als vernünftige Selbstverpflichtungsfähigkeit hält Kant für seine wichtigste ethische Erkenntnis. Erst die Möglichkeit zur Selbstverpflichtung eröffnet die weitere Möglichkeit, auch Fremdverpflichtungen gegen andere Menschen zu haben. In diesem Sinne ist Autonomie bzw. Selbstverpflichtungsfähigkeit grundlegend, d.h. begründend.

In seiner neu entwickelten Pflichtensystematik unterscheidet Kant dann zweimal zwei, also insgesamt vier Inhaltsklassen von Pflichten, nämlich jeweils vollkommene und unvollkommene Pflichten gegen sich selbst und gegen andere. Vollkommene Pflichten sind negativ, d.h. eindeutig als radikale Verbote bestimmt, unter unvollkommenen Pflichten versteht Kant positive Gebote, die hinsichtlich der Reichweite

Nach Kant weiß, wer sich als verpflichtungsfähig erkennt, zugleich, dass er auch Pflichten hat, nämlich, das Gute um des Guten willen zu tun.

Heike Baranzke

und des Grades nicht eindeutig bestimmbar, sondern graduell erfüllbar sind. Bemerkenswert ist nun, dass Kant das Verbot der Tierquälerei unter die kategorisch geltenden, nicht abstufbaren vollkommenen Pflichten gegen sich selbst einordnet und nicht etwa unter die vollkommenen Pflichten gegen andere Menschen, was der folgerichtige Ort für das Verrohungsargument gewesen wäre. Auch subsumiert er das Verbot nicht unter die unvollkommenen Selbstkultivierungspflichten, die ein Mehr oder Weniger an Erfüllung erlauben und somit steigerbar sind. So wird schon aus der systematischen Einordnung in seine Pflichtenlehre offensichtlich, dass Kant das auf eine Steigerung zum zwischenmenschlichen Übel ausgerichtete Verrohungsargument nicht als begründungstheoretisch relevant für das Verbot der Tierquälerei betrachtet hat. Aber auch inhaltlich ist der Befund leicht nachvollziehbar. Wie sollte denn auch ein heteronomes Erziehungsinstrumentarium den letzten Grund für ein Verbot in einer Ethik der Autonomie abgeben können? Das kategorische Verbot von Tierquälerei entspringt allein der rationalen Einsicht, dass die Verursachung von Schmerzen und Ängsten bei einem empfindungsfähigen Lebewesen eines vernünftig zu rechtfertigenden Grundes bedarf. Wenn keine ethische Rechtfertigung für die Schmerzverursachung vorzubringen ist, handelt es sich um eine verabscheuungswürdige (Tier-)Quälerei – eine moralische Tatsache, die im Humanbereich ihre Evidenz spätestens beim nächsten Zahnarztbesuch offenbart. Die Schmerzempfindung mag die gleiche sein; allein der rationale Grund für die Schmerzzufügung unterscheidet zwischen Körperverletzung und Heilbehandlung oder zwischen Tierquälerei und Tierversuch. Das Aufzeigen etwaiger negativer Konsequenzen – z.B. der zunehmenden persönlichen Abstumpfung sowie der sozialen Auswirkungen – sind zwar erlaubte pädagogische Hilfsmittel, durch die unmündige Kinder klug überredet und zur vernünftigen Einsicht angeleitet werden können. Aber es wäre ein ethischer Irrtum, sich eventuell einstellende Konsequenzen einer Handlung mit dem ethischen Grund zu verwechseln, durch den sie verboten ist, dass nämlich niemand berechtigt ist, ohne vernünftige, allgemein einsehbare Begründung Schmerzen und Leiden zu verursachen.

Die auf der formalen Begründungsebene so scharfsinnige Unterscheidung stellt in der Praxis jedoch vor so manch verzwickte Probleme. Was ist z.B. ein vernünftiger Grund für die Zufügung welchen Ausmaßes von Schmerzen und Leiden etwa in der Frage der Zulässigkeit von Tierversuchen oder der Tiertötung zu Ernährungszwecken? Wer bestimmt das Kriterium? Offensichtlich ist die Auffassung von der moralischen Akzeptabilität der Kriterien nicht von Einflüssen des sozialen Wandels frei und muss in einer Gesellschaft laufend neu ausgehandelt werden. Aber auch wenn Kants eigene Auffassungen bezüglich bestimmter Praxisfragen von dem Geist einer uns fremd gewordenen Zeit geprägt sind, ist seine Ethik der Autonomie darin unüberholt, dass sie die unhintergehbare Rechtfertigungsbedürftigkeit unserer moralischen Praxis auf den Begriff gebracht hat.

Bedauerlicherweise unterscheidet Kant in seinen moralphilosophischen Schriften nicht deutlich genug zwischen der Selbstverpflichtungsfähigkeit als formaler Bedingung der Möglichkeit von moralischer Praxis und ethischer Rechtfertigung einerseits und den materialen Pflichten gegen sich selbst andererseits, wie z.B. dem Suizid- oder dem Selbstbefriedigungsverbot. Damit hat er es seinen Kritikern allzu leicht gemacht, nicht nur spezifische materiale Pflichten gegen sich selbst zu kritisieren, sondern die verpflichtende Selbstbindungsfähigkeit als formale Bedingung der Möglichkeit moralischer Praxis im Ganzen zu verkennen. Da auch Schopenhauer sowie der für die englischsprachige Rezeption von Kants tierethischen Äußerungen entscheidende psychologisierende Kantianer Leonhard Nelson in seinem „System der philosophischen Ethik und Pädagogik“ Kants Konzeption von Pflichten gegen sich selbst pauschal verworfen haben, bleibt für deren tierethische Rezipienten Kants eigentliche Begründung des Verbots von Tierquälerei im Dunkeln. So wird die sekundäre moralpädagogische Unterstützungsargumentation – laut Kant „gute Lehren für Kinder“ – irrtümlich für seine fundamentalethische Begründung gehalten. Doch dem Autor der Vernunftkritik war klar, dass kategorische Verbote durch empirisch gestützte Dammbruch-Argumente weder begründet noch bestritten werden können. Diese Zusammenhänge zeigen, dass über die Tauglichkeit kantianischer Begründungen von Tierethik das letzte Wort wohl doch noch nicht gesprochen ist. Nozicks Formel: Kantianismus für Menschen, Utilitarismus für Tiere! darf noch einmal hinterfragt werden.