Eulenfisch - Limburger Magazin für Religion und Bildung
Abb 1: Theodor de Bry (Dirk de Bry), „The True Picture of a Women Picte”, veröffentlicht als Illustration 1588 // Abb. 2: A Burmese refugee in Thailand. From Big Ear Karen (a Hill Tribe). 2007 // Abb. 5: Jennifer Weist, von „Jennifer Rostock"

Von Gottes- und Menschenbildern

Der Stilwandel, der sich im Hinblick auf die Ästhetik des Körpers vollzogen hat, ist epochal. Mit der Tätowierung tritt ein neues Element auf.

Während der unbezeichnete Leib wandelbar ist, wird er nun dauerhaft mit Zeichen und Symbolen bezeichnet. Ein tätowierter Mensch ist kein „unbeschriebenes Blatt“ mehr.
Bildlichkeit und das biblische Verbot von Tätowierungen und Ziernarben

Das Judentum kennt eine gebotene Körpermodifikation: die Beschneidung der Männer. Die Beschneidung der Vorhaut ist für alle Juden verbindlich und gilt als unumkehrbares Zeichen der Zugehörigkeit zum Judentum, das auch von Konvertiten und Sklaven verlangt wird. Es ist dauerhaftes Zeichen des Bundes und Ausdruck der Bindung an Gottes Gebote. So wird im Kontext der Abrahams-Erzählungen ausgeführt: „Das ist mein Bund zwischen mir und euch samt deinen Nachkommen, den ihr halten sollt: Alles, was männlich ist unter euch, muss beschnitten werden. Am Fleisch eurer Vorhaut müsst ihr euch beschneiden lassen […] Alle männlichen Kinder bei euch müssen, sobald sie acht Tage alt sind, beschnitten werden in jeder eurer Generationen, seien sie im Haus geboren oder um Geld von irgendeinem Fremden erworben, der nicht von dir abstammt. Beschnitten muss sein der in deinem Haus Geborene und der um Geld Erworbene. So soll mein Bund, dessen Zeichen ihr an eurem Fleisch tragt, ein ewiger Bund sein.“ (Gen 17,10-14)

Andere symbolische Körpermodifikationen, insbesondere Tätowierungen, sind im Alten Testament jedoch verboten. Dies ist wesentlich durch ihren religiösen Charakter begründet, der vielfach mit der Kultur und der Religion der umgebenden Völker und Religionen verbunden war, die auch in Israel Anhänger hatten, sowie durch das Motiv des Bilderverbots. So wird in der deuteronomistischen Sammlung der Gesetze, im Buch Leviticus erklärt: „Für einen Toten dürft ihr keine Einschnitte auf eurem Körper anbringen und ihr dürft euch keine Zeichen einritzen lassen. Ich bin der Herr.“ (Lev 19,28)

Das Verbot, symbolische Zeichen auf der Haut zu tragen, kann auch mit dem Bilderverbot des Alten Testaments in Verbindung gebracht werden, das nicht allein eine theologische, sondern darüber hinaus eine daraus abgeleitete anthropologische Bedeutung besitzt. Das Verbot des Alten Testaments, Gott bildlich darzustellen, ist deutlich: „Du sollst Dir kein Gottesbild machen und keine Darstellung von irgendetwas am Himmel droben, auf der Erde unten oder im Wasser unter der Erde.“ (Ex 20,4)

Die Abbildung Jesu Christi ist aufgrund seiner Doppelnatur als Mensch und Gott theologisch begründet, indem seine menschliche Gestalt und Personalität im Bild als Gleichnis des unsichtbaren Gottes des Vaters verstanden wird. Mit den ersten Worten des Hebräerbriefs wird dies feierlich bekundet: „Viele Male und auf vielerlei Weise hat Gott einst zu den Vätern gesprochen durch die Propheten; in dieser Endzeit aber hat er zu uns gesprochen durch den Sohn, den er zum Erben des Alls eingesetzt und durch den er auch die Welt erschaffen hat; er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Abbild seines Wesens.“ (Hebr 1,1-3)

Damit ist christliche Theologie zur „Bilder-Theologie“ geworden. Jesus Christus wird als inkarniertes Ebenbild und Abbild Gottes (Ikone des Vaters) verstanden. Der Begriff des Bildes wird hier positiv für die Sphäre Gottes verwendet. Das Bild, sei es als Abbild oder als symbolisches Zeichen, vergegenwärtigt, gleichsam als „Realsymbol“, das dargestellte Wesen oder die Gottheit und vermittelt ihre „Herrlichkeit“, also ihre Wirkkraft , wie durch ein „Hervorleuchten“ ((a)paugasma). Christliche Theologie ist durch diese Deutung zur „Bildertheologie“ geworden. Die Ikonen in christlichen Kirchen erinnern daran. Ihnen wird eine übernatürliche Kraft der Vergegenwärtigung des Dargestellten zugeschrieben. Sie sind keine bloßen „Bilder“, sondern wirksame Zeichen.

Das 7. Ökumenische Konzil (787) hat die Bilderfrage im Sinne einer erlaubten Verehrung von Bildern theologisch schlüssig entschieden. Damit sind der religiöse Gebrauch von Bildern und ihre Anerkennung als eigenständige Mittel der Vergegenwärtigung des dreieinigen Gottes, Christi und der Heiligen in der Kirche in der christlichen Kirche verankert worden. Die Aussagekraft von Bildern deckt sich nicht mit denen von Worten. Sie ergänzen sich vielmehr.

Christliche Bildanthropologie

Christliches Nachdenken über die Bedeutung der Bilder für die Theologie besitzt Auswirkungen auf das Verständnis vom Menschen, auf das spezifisch christliche Menschen-„Bild“. Das Bild Gottes und das des Menschen sind nach christlicher Theologie untrennbar miteinander verbunden. Die biblische Grundlage findet sich in Genesis 1,26: „Dann sprach Gott: Lasst uns Menschen machen als unser Abbild, uns ähnlich“. Damit ist deutlich, dass sich christliche Anthropologie im Spannungsfeld zwischen Bildlosigkeit, d.h. wesenhafter Unbestimmbarkeit, und Gestaltwerdung, Inkarnation, und somit Bildhaftigkeit bewegt. Diese Polarität kann nicht nach einer Seite hin aufgelöst werden.

Alle Selbstbilder und Menschenbilder repräsentieren den einen Pol dieser Opposition. Christliche Anthropologie kann weder in völliger Bildlosigkeit, d.h. im Verzicht auf Selbstbilder und Menschenbilder, bestehen noch in völliger Bestimmung und bildlicher oder begrifflicher Festlegung. Die Unbestimmbarkeit und Unsagbarkeit („Apophatik“) ist der notwendige und unaufhebbare Gegenpol zur Bestimmung, Deutung und Definition des Menschen, in seinem Verhältnis zu sich selbst, zum Mitmenschen, zu sich als Gattungswesen und im Verhältnis zu Gott.

Tätowierungen und Brandmale in der griechisch-römischen Antike und dem Mittelalter

Im Neuen Testament finden sich Spuren dafür, dass religiöse Tätowierungen durchaus üblich waren und akzeptiert wurden. So schreibt der Apostel Paulus am Ende des Galaterbriefs: „In Zukunft soll mir niemand mehr solche Schwierigkeiten bereiten. Denn ich trage die Zeichen Jesu an meinem Leib.“ (Gal 6,17)

Das griechische Wort, das hier mit „Zeichen“ übersetzt wird, ist stigma. Es bedeutet unzweideutig eine Tätowierung oder ein Brandmal, wie sie in der Antike als Zeichen des Besitzes eines Sklaven oder von Vieh diesem eingebrannt wurde. Religiöse Tätowierungen wurden entsprechend als Zeichen vollkommener und dauerhafter Bindung an eine Gottheit getragen. In der Aussage des Apostels Paulus wird deutlich, dass er sich hier im Horizont der griechisch-römischen Kultur bewegt, in der er sozialisiert wurde.

Die Konnotationen, die durch die Praxis der Kennzeichnung von Sklaven und Vieh sowie auch von Feinden und Strafgefangenen, im Bereich griechisch-römischer Kultur, hervorgerufen wurden, waren jedoch vorwiegend negativ. Dementsprechend wurden Tätowierungen in der hellenistischen Kultur einhellig als entwürdigend empfunden und abgelehnt.

Diese Bedeutung hat auch das Verbot durch Kaiser Konstantin im 4. Jahrhundert begründet. Er nahm dabei auf die Gottebenbildlichkeit des Menschen Bezug, dem solche Entwürdigung nicht angemessen sei. Möglicherweise hat das Verbot den Nebeneffekt gehabt, sichtbare Zeichen der Zugehörigkeit zu anderen Religionen als der des siegreichen Christentums aus dem öffentlichen Raum zu verbannen. Das Verbot der Tätowierung blieb im weströmischen Kulturraum bis zum Ende des Mittelalters wirksam.

Gleichsam in einer Gegenbewegung hat das westliche Christentum im Mittelalter eine besonders dramatische Form religiöser Körpermodifikation hervorgebracht: die „Stigmatisierung“. Hier entstehen in einem Prozess psychosomatisch wirksamer Identifikation mit Jesus Christus, dem Gekreuzigten, dieselben Wundmale, an den Händen von Gläubigen, wie es die ikonographische Tradition der Kreuzigungsdarstellungen darstellt. Bei der römischen Kreuzigung wurde durch das Handgelenk genagelt, da die Hand das Gewicht des Körpers nicht tragen konnte, doch ist die Vorstellung von Wundmalen Christi an den Händen üblich geworden; entsprechend bilden sich die Wundmale der Stigmatisierten aus. Franz von Assisi ist der erste Heilige, von dem eine Stigmatisierung überliefert wurde, die 1224 stattgefunden haben soll. Die katholische Kirche beachtet dieses Phänomen zwar als spirituell relevant, wertet es jedoch nicht automatisch als Zeichen von Heiligkeit oder als „übernatürliches Geschehen“. Stigmatisierungen kommen im katholischen Raum bis in die Gegenwart vor.

Das orientalische Christentum ist in der Frage der Tätowierungen andere Wege gegangen. Hier ist dieses Verbot außerhalb des Raums griechischer Kultur nicht wirksam geworden. So ist es bei orientalischen Christen, etwa im Libanon, in Indien, in Ägypten oder in Äthiopien weit verbreitete Sitte, das Symbol des Kreuzes als Tätowierung auf der Hand, am Handgelenk oder auf der Stirn zu tragen. In einem Umfeld, in dem die Zugehörigkeit zum Christentum deutliche Diskriminierung, Anfeindung, Gewalt oder Verfolgung zur Folge haben kann und vielfach hat, ist eine solche Tätowierung ein sichtbares und mutiges Zeichen des Bekenntnisses zu Christus. Die Aussage des Apostels Paulus zu seinen „Stigmata“ Christi ist in dieser Traditionslinie zu verstehen.

Äthiopien hat über Jahrhunderte hinweg immer wieder islamische Invasionen erlitten und abgewehrt. Die Tätowierung mit dem Kreuz hat daher nicht nur binnenkulturelle Bedeutung als Zeichen der Zugehörigkeit zur eigenen christlichen Volksgemeinschaft, sondern auch einen Bekenntnischarakter gegenüber der islamischen Umwelt.

Kulturgeschichtliche Ursprünge der Tätowierung und die Sehnsucht nach „Rückkehr zu den Ursprüngen“

In vielen Kulturen der antiken Welt war es weit verbreitet, Tätowierungen als Schutzzeichen oder als magisch wirksame Zeichen zu tragen. So hat es nur mäßig überrascht, zu entdecken, dass die steinzeitliche Mumie, die im Eis der Ötztaler Alpen gefunden wurde, der „Ötzi“, mehrfach tätowiert war. Die Tätowierungen des „Ötzi“ gelten als die ältesten gesicherten weltweit. Diese Praxis ist jedoch weltweit aus frühen Zeiten der Menschheitsgeschichte bezeugt und kann als universales Element betrachtet werden.

Ein weiteres Beispiel früher Tätowierungen sind die an skythischen Mumien, die in ihren Grabstätten im Altai-Gebirge durch Eis konserviert geblieben sind. Die Motive ihrer Tätowierungen sind so gut erhalten, dass sie seit ihrer Entdeckung vielfach neu übernommen wurden. Für diejenigen, die sie tragen, dürfte es ein Mittel sein, sich mit mythischen „Ursprüngen“ bzw. einer archaischen Welt zu verbinden. Es ist eine Bewegung, die der rumänische Religionswissenschaftler Mircea Eliade als Ausdruck einer spirituell motivierten „Sehnsucht nach dem Ursprung“ gedeutet hat, die sich in der Hinwendung zu den Symbolen und Mythen archaischer Kulturen – und hier besonders der schamanischen – manifestiert. Derjenige, der sich ein Muster, das auf einer jener skythischen Adligen gefunden wurde, tätowieren lässt, verbindet sich auf mystische Weise mit ihnen und kehrt so in einen imaginierten „Ursprung“ zurück – in einer Bewegung, die Eliade als Erneuerung durch Rückkehr in den Ursprung deutet. Er hat dazu den Zusammenhang zwischen Riten der symbolischen „Rückkehr in den Ursprung“ und „Neugeburt“ bzw. „Wiedergeburt“ und ihrer Markierung durch Körpermodifikationen im Kontext von Initiationsriten aufgezeigt.

Die Zunahme von Tätowierungen und Körpermodifikationen im europäisch-amerikanischen Kulturraum in der Neuzeit

Es ist zu beobachten, dass Tätowierungen und Piercings deutlich häufiger im angelsächsischen Kulturraum vorkommen als in Deutschland und anderen europäischen Ländern. So liegt der Anteil der Tätowierten in den USA einer Untersuchung des renommierten Pew Research Centre im Jahr 2006 zufolge unter US-Amerikanern bei 36% der Altersgruppe 18 – 25, bei 40% der 26 – 40-Jährigen und 10% bei denen von 41 – 64.

Die Zahlen für Deutschland liegen deutlich niedriger. Sie nehmen jedoch erheblich zu. Im Jahr 2009 hat die Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) deutschlandweit eine repräsentative Umfrage zum Thema Tätowierung und Piercing durchgeführt. Die Auswertung der Daten ergab: „Die Anzahl an Personen mit Tattoos (Piercings) hat sich im Vergleich zu 2006 nicht wesentlich verändert und beträgt 9 Prozent (Piercing – ohne Ohrlöcher – etwa 7%). In der Altersklasse der 25- bis 34-jährigen befindet sich der höchste Anteil an Personen mit Tattoos (22%) bzw. Piercings (52% inkl. Ohrlöcher). In der Studie lässt sich kein Zusammenhang zwischen Tattoos und Schulbildung nachweisen.“ Die Studie untersuchte insbesondere die Verteilung des Phänomens nach Alter, Geschlecht, Bildung und sozialer Stellung.
Während A. Stirn Sensationslust, Lebenskrisen, soziale Unangepasstheit und Orientierung an Modeströmungen als Gründe für Tätowierungen und Piercings ausmacht , kommen nachfolgende Studien zu anderen Ergebnissen und stellen keine sozial oder psychologisch pathologischen Ursachen fest. So erklärt A. Trampi, dass nur eine mäßige Korrelation zu Pathologien, wie Essstörungen, nachweisbar sei, und fordert daher dazu auf, das Phänomen als weit verbreitetes ästhetisches Mittel der Bekundung individueller Identität anzusehen.

Damit ist deutlich, dass Tätowierungen und Piercings kein Phänomen von Randgruppen mehr sind, wie ihre Häufigkeit unter älteren Jahrgängen, ab der Lebensmitte, nahelegen könnte. Vielmehr sind diese Formen der Körpermodifikation in der Breite der Gesellschaft rezipiert worden und dürften sich dauerhaft etabliert haben. Es liegt also nahe, sie nicht als Symptome irgendwie gearteter „Devianz“ zu betrachten, sondern sie als Ausdruck eines erheblichen Kulturwandels zu verstehen.

Wandel der Körper-Ästhetik in der Neuzeit

Wo liegen die Ursprünge dieses durchaus „epochalen“ Wandels der Körper-Ästhetik? Eine Erklärung ist, dass die Hinwendung zu verdrängten Volkstraditionen Europas auch Körperpraktiken, die im einfachen Volk bestanden, in die allgemeine Kultur eingeführt hätten. Dieser Ansatz trägt jedoch nicht sehr weit, insofern solche Formen der Tätowierung oder des Schmucks mit den stilistischen Codes der „Trachten“ verbunden sind und weiterhin nur regionale Bedeutung haben.

Die Tradition der Tätowierung in Großbritannien wird vielfach auf das Volk der „Pikten“ (von griechisch „πύκτις“ : bemalt) zurückgeführt, von dem antike Historiker berichteten.

Hier wird im 16. Jh. das Wissen um die schottischen Pikten als Bild zur Deutung der tätowierten Indianer aufgegriffen, denen die frühen Siedler in Virginia begegneten.

Das Zeitalter der Entdeckungen neuer Welten in Übersee und ihrer Eroberung brachte die europäischen Gesellschaften in Kontakt mit Kulturen, deren Körper-Ästhetik ganz anders als die eigene war.

Ein erheblicher Schub in der Rezeption außereuropäischer Körpermodifikationen der Tätowierung entstand durch Kapitän James Cooks Weltumseglungen und Pazifikfahrten zwischen 1768 und 1780. Die sorgfältige Dokumentation der Tätowierungen der Maori und anderer Polynesier sowie der Tätowierungen, die einige Mitglieder seiner Mannschaft sich von ihnen stechen ließen, begründeten eine bleibende Mode, die sich zunächst unter Seeleuten verbreitete und im späten 20. Jh. vom Mainstream rezipiert wurde. Die großflächigen polynesischen Tattoos sind heute eine wichtige Stilrichtung der Tattoos, besonders für Männer.

In den USA ist die im Vergleich zu Europa erheblich weitere Verbreitung von Tätowierungen und Körpermodifikationen auch auf den langen Kulturkontakt zu Indianern zurückzuführen. Hier ist Mitte des 19. Jh. besonders Olive Oatman berühmt geworden. Sie war als Tochter einer mormonischen Siedlerfamilie auf dem Zug nach Westen mit 14 Jahren in die Gefangenschaft kalifornischer Indianer geraten und wuchs, vom Nachbarstamm der Mohave adoptiert, in deren Obhut auf. Stammesgemäß wurde sie tätowiert. Als junge Frau in die weiße Gesellschaft zurückgekehrt, bereiste sie später Amerika zu Vortragsreisen. Ihre indianische Tätowierung erweckte Faszination. Sie trug sie als Zeichen der hybriden Identität ihres Lebens.

Die ethnographischen Berichte haben andere Vorstellungen vom Körper und seiner Wertigkeit als diejenigen der abendländischen Kultur in breiten Kreisen bekannt gemacht. Mit dem kulturellen Umbruch und der sexuellen Revolution in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts lieferten diese Fotografien Vorstellungsbilder für reale oder imaginierte alternative Einstellungen zum Körper und zur Sinnlichkeit. Der kulturelle Umbruch im euro-amerikanischen Kulturraum fand hier seine Ästhetik und rezipierte sie entsprechend. Hierbei sind besonders die Indianer und Völker Süd- und Ostasiens sowie Polynesiens beispielgebend geworden. Nach und nach wurden ihre Körpermodifikationen übernommen: die Tätowierungsmuster der Polynesier, der Indianer oder südostasiatischen Völker, der Schmuck in Nasenflügeln oder im Septum und die mehrfach beringten Ohren der Inder, die gedehnten Ohrläppchen mit schwerem Schmuck aus Südostasien usw.

Die Verbindung der Rezeption der Körper-Ästhetiken und Schmucksitten nicht-europäischer Völker mit dem Wandel der Einstellungen zur Sexualität und zur Leiblichkeit hat dazu geführt, dass ihre Rezeptionen zum Ausdrucksmittel dieser neuen Werte wurden.

Obwohl die veränderten Schmucksitten erst im späten 20. Jahrhundert allgemein gesellschaftsfähig und verbreitet wurde, sind sie bereits im „Fin-de-Siècle“ in den Jahrzehnten vor dem 1. Weltkrieg durch einige Pioniere praktiziert worden. So erregte die Schauspielerin, Tänzerin und Sängerin Emilie Bouchard international Aufsehen, als sie fortan einen goldenen Ring im Septum trug.

Die New York Times berichtete damals aus Paris, dass Emilie Bouchard erklärte, sie habe diese Schmuck-Sitte der Zulus übernommen, um nie wieder in New York als hässliche Frau beschrieben zu werden. Im Verlauf des 20. Jh. kamen verschiedene Formen der Intim-Piercings für Frauen und für Männer hinzu, von denen viele erst neu entstanden.

In den letzten Jahrzehnten des 20. Jh. haben einige Künstler bahnbrechend zur Popularisierung der ästhetischen Körpermodifikation beigetragen. In Deutschland kann etwa an die Rockmusikerin und Fernsehmoderatorin Jennifer Weist, Frontfrau der Band Jennifer Rostock, erinnert werden, die am ganzen Körper tätowiert und reich gepierct ist.

Auch die Haute Couture nahm sich des Phänomens an. J.P. Gaultier schickte tätowierte und gepiercte Models auf den Laufsteg. Andere folgten. Die großen Modezeitschriften brachten den neuen Stil an die Kundschaft. Aus einem Symbol der Rebellion, wie am extremsten von den Punks vorgeführt, sind die Piercings und Tätowierungen zu einem extravaganten, aber gesellschaftlich allmählich akzeptierten Element der Mode geworden. Der Ruch der Grenzüberschreitung ist nicht verflogen, aber gesellschaftlich integriert worden.

Die Verbreitung der Tätowierungen und Piercings hat in den letzten 20 Jahren zur Gründung einer Vielzahl von Tattoo- und Piercing-Studios geführt. Als Ausdruck des Wandels erscheinen inzwischen mehrere Tattoo- und Piercing-Magazine, von denen sich die meisten beiden Formen widmen. Diese Illustrierten vertreten eine Bandbreite unterschiedlicher Stil-Orientierungen und sprechen erkennbar verschiedene Milieus an. Die neue Mode hat ihre Verbindungen zur „Alternativ-Kultur“ sowie zu verschiedenen ästhetischen Subkulturen nicht abgelegt.

Deutung der kulturgeschichtlichen Wandlung

Ist der Wandel der Sitten hinsichtlich der Tätowierung als Phänomen eines soziologischen Wandels zu deuten, mit Verlust der stilistischen Normen setzenden Macht des Bürgertums, als Träger christlich-römischer ästhetischer Traditionen, mit der Folge des Aufstiegs von Ästhetiken von Unterschichten und marginalisierten Gruppen? Somit ein Symptom des Endes der bürgerlichen Gesellschaft? Oder ist es gar ein Phänomen der Säkularisierung als Geltungsverlust jüdisch-christlicher Normen im ästhetischen Bereich? Aufschluss über diese Veränderungen dürften die ästhetischen Codes, bzw. die Stilrichtungen der Tätowierungen und ihre kulturellen Bezüge geben.

Es gibt stilistische, kulturelle und religiöse Kategorien: traditionelle Motive, Motive und Stile der Kelten, Skandinavier, Japaner oder Polynesier, Motive verschiedener Stilrichtungen europäischer Kunst von Viktorianisch bis zur Abstrakten Moderne, Punk-Ästhetik, Schrift-Tattoos, religiöse Motive aus Christentum, Islam, Hinduismus, Buddhismus oder Heidentum. Viele Motive bergen eine ästhetische, erotische, subkulturelle, religiöse oder weltanschauliche Botschaft.

Die Wandlung der Sitten mit Bezug auf die Haut ist im Kontext kultureller Veränderungen der letzten Jahrzehnte zu sehen. Sie sind kein bloßes „Oberflächenphänomen”, sondern ästhetischer Ausdruck eines epochalen Wandels, v. a. im „Westen”. Denken wir an den Stilwandel der Mode an der Grenze vom Absolutismus und dem Rokoko zur bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Stil der „Natürlichkeit” und Egalität Ende des 18. Jahrhunderts.

Der gegenwärtige Wandel symbolisiert ein verändertes Verhältnis zur Leiblichkeit und ist kulturgeschichtlich begründet. Analoge Veränderungen haben sich in bildender Kunst und Musik schon früher im 20. Jh. vollzogen. Die Verbreitung der Tätowierung zeigt eine „Akzentverschiebung” von der Haut als Sinnesorgan zu einem Objekt, mit Dominanz der Außenperspektive des „Ich als Objekt”, genauer: „mein Leib als Objekt”, mit dem Leib als Selbstrepräsentanz im Feld kultureller Zeichen und zwar in ästhetischer, soziologischer, erotischer und weltanschaulicher oder religiöser Hinsicht, bewusst und unbewusst. Der Körper wird bewusst „semiotisiert”, indem sich der Träger mit Räumen der Imagination verbindet, über seine „reale” Bestimmtheit durch Stand und Habitus hinaus. Diese Zeichen werden als existentielle Bestimmungen getragen und ermöglichen symbolische Kommunikation.

Der Tätowierte ist ein Gegenentwurf zum „Mann ohne Eigenschaften” , zum „Möglichkeitsmenschen”. Mit jeder Tätowierung „verendlicht” sich der Träger in der bleibenden Identifikation mit den ästhetischen Zeichen. Die Hinwendung zur Tätowierung und auch zum Körperschmuck bekundet, dass der Leib als Fläche und Medium des Selbstausdrucks wahrgenommen und eingesetzt wird. Der Leib ist nun nicht nur Träger der Person, sondern diese manifestiert sich durch ihren Leib. Daher werden diesem Leib kulturelle Symbole einbeschrieben, die von den imaginären Räumen und Symbolwelten der Träger künden. Es ist eine Geste, die man als „Authentifizierung“ bezeichnen könnte, als leibhaftige „Selbstwerdung“ im Leib.
Aus diesem Grund zeugen Tätowierungen – und zu einem gewissen Maß auch Piercings – von der Lebensgeschichte des Trägers. Die Piercerin und Tätowiererin Eva Fuchs aus dem Studio Art n Style in Schweinfurt berichtet, dass Menschen oft Etappen ihres Lebens mit einem Tattoo besiegeln. Es sind oft überwundene Lebenskrisen, auch Verluste. Der Aspekt der Eröffnung einer neuen Lebensstufe kann auch damit verbunden sein. Diese Aussage weist auf eine seelische Tiefendimension hin, die man leicht übersehen kann.

Die Preisgabe der Unbestimmtheit – die seit der Antike Symbol der Souveränität war – ist zugleich ein souveräner Akt der „Selbst-Bestimmung” jenseits der gesellschaftlich dem Träger zugeschriebenen Bestimmungen. Dementsprechend sind Tätowierungen in Berufen, die Macht repräsentieren, wie Polizei, Bankwesen, Führungspositionen der Wirtschaft und Verwaltung, Geistlichkeit etc. am wenigsten geduldet, ebenso dort, wo die Funktion vorrangig ist.

Unübersehbar ist, dass mit Tätowierungen der Leib in das Feld der Kommunikation rückt – der öffentlichen, soweit sie allgemein sichtbar sind, oder der privaten. Ästhetische, weltanschauliche oder religiöse Identifikationen werden leiblich, unauslöschlich getragen. Der Leib ist hierbei nicht nur Funktionsträger, als „Träger” der Person, sei es in ihrer öffentlichen oder in ihrer privaten Eigenschaft, sondern symbolisiert die Identität einer Person in signifikanter Weise.

Die Verbreitung von Tätowierungen kann mit der Hinwendung westlicher Kultur zum Leib, zum Körper und mit der sog. Sexuellen Revolution des 20. Jh. in Verbindung gebracht werden. Tätowierungen sind jedoch nicht ausschließlich erotisch. Sie markieren oft Differenz.

Mit den Tätowierungen verändert sich das Feld der erotischen Kommunikation. Zwar spielt der Leib in seiner Gestalt, seiner Gepflegtheit und Trainiertheit, usw. eine visuelle Rolle. Diese verstärkt sich jedoch, indem der Raum der Imaginationen unmittelbar dem Leib eingeschrieben wird. Lacan zufolge ist Begehren wesentlich durch Imagination gesteuert, durch das, was der begehrten Person zugeschrieben wird. Neben die unmittelbar sinnlichen Eigenschaften, etwa, sich gut riechen zu können, treten verstärkt imaginative.

Der Leib wird verstärkt in den Raum der Innerlichkeit, der Imagination einbezogen. Der natürliche Leib wird „kulturiert” und signifikant im Raum des Austauschs der Imaginationen. Der so semiotisierte bzw. „kulturierte” Leib tritt in ein ambivalentes Verhältnis zum natürlichen Leib. Das wird an der Rolle von Ziernarben und Tätowierungen bei Naturvölkern deutlich: hier wurde jede Stufe des Erwachsenwerdens sowie besondere Initiationen mit entsprechenden Markierungen des Leibes verbunden. Die jüdisch-islamische Beschneidung ist ein Rest davon.
Damit wurde der Leib sozialisiert, aus einem „natürlichen Leib” wurde ein „geistlicher Leib”, ein kulturell, religiös, sozial und auch sexuell determinierter Leib. Der Leib wird in gewissem Grad seiner natürlichen Wandlung entzogen, indem seine „Bezeichnungen” bleibend sind.

Fünf Dimensionen kennzeichnen Tätowierungen und Körpermodifikationen (Piercing, Ziernarben u.a.) in nichtwestlichen Kulturen:

1. der soziale Status nach Altersklasse, Lebensstufe, Hierarchiestufe, Geschlechtsrolle, Clan und Stamm,
2. eine religiöse bzw. spirituelle Initiation (auch als geheimes Zeichen),
3. die erotische, manchmal mit Initiationen,
4. die ästhetische, oft individuell gestaltet,
5. eine psychologische, die über den inneren Zustand des Trägers in den Formen symbolischer Kommunikation der Kultur Auskunft gibt.

Diese Dimensionen können auch an den Tätowierungen und am Körperschmuck der Gegenwart in unserem Kulturkreis wahrgenommen werden. Sie werden zu Zeichen, die gelesen werden sollen. Ihre Bedeutung erschließt sich manchmal nur den Eingeweihten, sei es denen, die mit der religiösen, spirituellen oder kulturellen Symbolwelt vertraut sind, denen sie entspringen. Damit werden sie fallweise auch zu einem religiös bedeutsamen Zeichen, wenn sie Zeichen eines Glaubensbekenntnisses enthalten und sind.
Für den aufmerksamen Betrachter sind sie jedoch auch Zeichen, die zuweilen viel über das Innenleben des Trägers aussagen – mehr als auf den ersten Blick zu erkennen ist. In dieser Hinsicht fordern sie auch dazu auf, den Träger jenseits seiner gesellschaftlichen Bestimmtheit als Person und als Menschen wahrzunehmen, der sich symbolisch kundgibt, um verstanden zu werden.

Im Feld des Religionsunterrichts tritt das Phänomen der Tätowierungen und des Körperschmucks in mehreren Perspektiven in Erscheinung. Es gehört in die Umwelt, für manche Schüler auch in die familiäre Umwelt und ist Teil der Lebenswelt, der wahrgenommen werden will. Es ist in der Schule unter Schülern vorhanden, ab 16 Jahren und besonders ab 18. Es ist schließlich auch, wenn auch bislang selten, unter Lehrern vertreten.